In politischen Debatten wird Populismus oft als Ergebnis von Unwissenheit oder Täuschung betrachtet. Doch diese Analyse greift zu kurz. Populistische Narrative sind nicht nur attraktiv, weil sie einfache Antworten auf komplexe Probleme liefern, sondern weil sie den Anhängern eine tiefgehende psychologische Entlastung bieten. Sie ermöglichen es, Verantwortung zu negieren, indem man sich bewusst auf eine Version der Realität einlässt, die zwar fragwürdig sein mag, aber persönliche Exkulpation verspricht.
Exkulpation durch die Opferrolle
Ein zentrales Element populistischer Rhetorik ist die Schaffung einer Opferidentität. Wer sich als Opfer äußerer Mächte – sei es „die Elite“, „die Medien“ oder „das System“ – sieht, kann sich von persönlicher Verantwortung für gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklungen entlasten. Das eigene Scheitern oder die eigene Unzufriedenheit werden nicht als Ergebnis individueller Entscheidungen oder struktureller Herausforderungen betrachtet, sondern als Folge gezielter Manipulation durch andere. Diese Perspektive ist verlockend, denn sie erlaubt es, Wut und Frustration nach außen zu projizieren, anstatt sich mit den eigenen Handlungsoptionen auseinanderzusetzen.
Bewusste kognitive Dissonanz
Interessanterweise gehen viele Populismus-Anhänger nicht naiv oder ahnungslos mit den Erzählungen um, die sie übernehmen. Sie erkennen oft zumindest unterschwellig, dass diese Narrative nicht völlig der Wahrheit entsprechen. Dennoch werden sie akzeptiert, weil sie eine bequeme Erklärung für Unzufriedenheit liefern. Kognitive Dissonanz – der unangenehme Zustand, wenn widersprüchliche Informationen aufeinandertreffen – wird auf diese Weise umgangen. Der einfache Glaube an eine Schuld von außen ist oft weniger belastend als die Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Fakten.
Moralische Entlastung
Eine direkte Folge dieser bewussten Selbsttäuschung ist die moralische Entlastung. Wer sich als betrogen oder hintergangen wahrnimmt, kann sich von der Pflicht befreien, eigene Fehlentscheidungen kritisch zu hinterfragen. Die politische Wahl, die Unterstützung einer bestimmten Bewegung oder das Verbreiten fragwürdiger Inhalte in sozialen Medien – all dies erscheint dann nicht als persönliche Verantwortung, sondern als Konsequenz einer manipulierten Realität.
Das Narrativ der Täuschung als Schutzschild
Sollten populistische Versprechen nicht eintreten oder sich als unhaltbar erweisen, existiert bereits eine vorgefertigte Erklärung: Man sei betrogen worden. Dieses Narrativ dient als Schutzschild gegen Selbstzweifel. Indem man sich auf die Idee verlässt, dass korrupte Eliten, manipulative Medien oder ein „verzerrtes System“ die Wahrheit verdrehen, bleibt die eigene Position unangetastet. Fehlerhafte politische Entscheidungen oder das Verfolgen unrealistischer Erwartungen werden so nicht zur persönlichen Verantwortung, sondern zur Folge externer Täuschung.
Psychologische Bequemlichkeit und die Vermeidung von Unsicherheit
Letztlich spielt auch ein Grundbedürfnis nach Stabilität und Klarheit eine Rolle. Die moderne Welt ist geprägt von Ambivalenzen, Unsicherheiten und ständigem Wandel. Sich dieser Unsicherheit aktiv zu stellen, erfordert Anstrengung und oft auch die Bereitschaft, Widersprüche auszuhalten. Populismus hingegen bietet eine trügerische, aber psychologisch entlastende Klarheit. Er reduziert die Welt auf einfache Erklärungen, auf eindeutige Schuldige und auf eine klare, wenn auch illusionäre, Handlungsorientierung.
Fazit
Populismus ist weit mehr als eine politische Strömung – er ist eine psychologische Strategie, um mit Unsicherheit und Verantwortung umzugehen. Die bewusste Wahl einer verzerrten Realität ist oft kein Zeichen von Täuschung durch andere, sondern eine Strategie zur Selbstentlastung. Indem populistische Narrative eine Opferrolle ermöglichen, kognitive Dissonanz vermeiden, moralische Entlastung bieten und Unsicherheit reduzieren, werden sie zu einem attraktiven Mechanismus, der persönliche Verantwortung auslagert. In einer Zeit, in der Unsicherheiten zunehmen, ist es daher nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung, Wege zu finden, wie Menschen mit Ambivalenz umgehen können, ohne in vereinfachende Erzählungen zu flüchten.